Der Algorithmus und ich (6): Karl der Grosse reitet durch Paris

Zuerst erschienen in: Diaphanes Magazin 6  

Facebooks Algorithmus hat mir oft genug Erinnerungen an meine ­Türkei-Reisen serviert, gibt nun aber Gegensteuer und präsentiert plötzlich ganz andere Einträge aus meiner sogenannten Timeline.
Zum Beispiel diese verwackelte Aufnahme eines Reiterdenkmals Karls des Großen, leider nur ansatzweise sichtbar, mit Vasallen. Karl war mir aufgefallen, als ich vor einigen Jahren zu später Stunde die Pariser Île de la Cité querte, während er von Notre-Dame gen Westen ritt. Sein Schöpfer Louis Rochat folgte dem Rezeptbuch der historischen Bühnenbildnerei, mit dem man sich im 19. Jahrhundert Geschichtshelden und, wie nach dem Großbrand von Notre-Dame nun alle Welt weiß, auch Kathedralen zurechtbastelte. Man nehme zum Beispiel ein Szepter, wie es der Louvre für solche Reenactments vorrätig hält. Egal, dass es dem erst 700 Jahre später geborenen Karl V. gehörte. Man füge Komparsen namens Oliver und Roland hinzu. Wer weiß denn noch, dass Roland zum Zeitpunkt der Krönung Karls des Großen schon längst tot war? Man bitte Viollet-le-Duc, der eh grad in Notre-Dame am Werkeln ist, um einen Sockel. Et vive Charlemagne!

 


Schon die Zeitgenossen hatten allerdings so ihre Mühe mit dem Koloss. Konzipiert noch unter Napoléon III. und für die Weltausstellung 1867 in Gips modelliert, nach 1870 umstritten wegen des Kriegs mit Deutschland, 1878 dann doch in Bronze gegossen, wurde er erst 1895 von der Stadt Paris erworben und 1908 platziert. Jenem Jahr, in dem Picasso und Braque mit dem Kubismus die Moderne und damit die Dekonstruktion jener opernhaften Wirklichkeitseffekte einläuteten, die das 19. Jahrhunderte so s­chätzte.
Der Kirchplatz war menschenleer, als ich Karl fotografierte. Keine Patrouille, es war vor den großen Terroranschlägen. Während ich mit dem Smartphone hantierte, hörte ich ein Rascheln. Und sah in den Rabatten fette Ratten, die Reste aus weggeworfenen Imbiss-Verpackungen fraßen. Ich stampfte kräftig auf. Sie fraßen ungerührt weiter.
Ich machte auch von ihnen ein Foto, nicht ohne an die unangenehme Lektüre von Camus’ Pest zu denken. Das geblitzte Auge eines riesigen Exemplars leuchtete rot. Später stellte ich die Aufnahme des Denkmals und der Ratte nebeneinander auf Facebook, frei nach Jean-Luc Godard, demzufolge 1 + 1 Bild ein drittes ergibt. Das von mir herbeifantasierte diffuse dritte Bild hatte irgendwas mit der unheimlich heroischen Pose der Zivilisation und der nicht minder unheimlichen Macht resistenter Nager zu tun.
Doch Facebook kassierte bei der erneuten Präsentation die Ratten. Es blieb einzig der Held. Ok, Facebook mag das dritte Bild nicht. Entweder ist das Erinnerungszensur, oder der Algorithmus ist überfordert mit Bildpaaren und der Fantasie, die in ihrem Zwischenraum siedelt. Das lässt hoffen.
PS: Für Infos zum Denkmal danke ich: https://lindependantdu4e.typepad.fr/arrondissement_de_paris/2009/06/la-statue-de-charlemagne-et-ses-leudes-une-statue-qui-a-eu-du-mal-%C3%A0-trouver-une-place-.html
Ach ja, die FB-Aktie hat sich deutlich berappelt trotz der Skandale um ›fake news‹. Hierzu der Untersuchungsbericht des britischen House of Commons: »Disinformation and ›fake news‹: Final report«: https://publications.parliament.uk/pa/cm201719/cmselect/cmcumeds/1791/1791.pdf