Biennale von Kochi-Muziris 2016/17 (1): Erst mal ins Kerala Folklore Museum

Annäherung schräg von der Seite: Das Kerala Folklore Museum – eine zeitgenössische Wunderkammer

 

In Fort Kochi, Kerala, Südindien, wird in konzentrierter Weise sichtbar, wie sich in Indien die Geschichten überlagern. Es sind Geschichten von Eroberungen, wechselnden Kolonialherren (Portugiesen, Holländer, Engländer) und bis zum heutigen Tag andauernden Migrationsbewegungen. Auch mehrere grosse Weltreligionen haben hier ihre Spuren hinterlassen oder tun es noch immer.

Die Kochi-Muziris-Biennale, die erste Biennale auf dem indischen Subkontinent, erscheint als eines der jüngsten Kapitel in dieser Geschichte: Die moderne und zeitgenössische Kunst, die manche mit guten Gründen für nichts anderes halten als eine Abart von Religion, schlägt hier seit der ersten Ausgabe 2012 alle zwei Jahre ihre Zelte auf. Sie bringt Menschenströme, die nicht wie einst die Kolonialherren wegen der Gewürze kommen, für die die „Pfefferküste“ berühmt ist, sondern wegen der neuen Aromen und Geschmacksnoten, die sie sich von der hier besonders gut vertretetenen asiatischen, indischen oder arabischen Kunstszene erwarten.

Mehr als 400 000 Besucher zählte man bereits mit der 2. Ausgabe von 2014. Die dritte Ausgabe, gegen deren Ende im März 2017 ich in Kochi bin, wird von Einheimischen, aber auch von Indern aus dem Norden sehr gut besucht, für die Kerala ohnehin ein beliebtes touristisches Ziel ist. Inzwischen hat die zunächst skeptische lokale Bevölkerung bemerkt, dass die Biennale in mancherlei Hinsicht interessant ist – unter anderem bringt sie Touristen und wirtschaftliche Impulse. Sozusagen den Guggenheim-Effekt auf indisch.

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Foto: Teilansicht von Airvata. Weisser Elefant aus der indischen Mythologie, der den Hindu-Gott Indra trägt. Holz, 17. Jahrhundert, Tamilnadu.

Nicht zu den ausgewiesenen „Collateral Events“ der Biennale gehört das Kerala Folklore Museum. Doch auf der Suche nach lokalen Attraktionen stöss man im Internet rasch darauf. Die Homepage wirkt etwas gebastelt und macht skeptisch. Der Bus, der von Fort Kochin aus zum Flughafen fährt, hält fast direkt vor dem auch von der Durchgangsstrasse aus sichtbaren, auffälligen Gebäude. Der mehrstöckige Bau aus dunklen Tropenhölzern erinnert ein wenig an eine Arche. Er ist, wie man bald erfährt, zusammengesetzt aus Überresten traditioneller Bauten in Kerala, ein Mix aus Elementen arabischer und indigenerArchitektur. Wir sind im Land der Synkretismen.

Vor dem Betreten des Museums werde ich gebeten, die Schuhe auszuziehen, was mich nicht weiter erstaunt, da es im Orient oder in Asien durchaus üblich ist, wenn man Innenräume betritt. An der Kasse wird mir von der Frau als erstes mit Sandelholzpaste ein Bindizeichen zwischen die Augen appliziert. Das stimmt auf einen eher ungewöhnlichen Museumbesuch ein. Vor allem aber werde ich von den Frauen am Empfang und im Erdgeschoss, die in traditionelle weiss-goldene Kerala-Saris gekleidet sind, freundlich begrüsst und sogleich in groben Zügen darüber informiert, was ich hier zu sehen bekomme.

Zum Glück, denn das Kerala Folklore Museum ähnelt nicht nur einer Arche, es ist eine: Es überwältigt die Eintretenden nahezu, denn es ist bis an den Rand dicht gefüllt mit volkstümlichen Skulpturen von indischen Gottheiten und christlichen Heiligen, Tier-Gottheiten, Masken, Figuren, Kostümen, Schmuck, Palmblattmanuskripten, alten Fotografien und Gemälden, Textilien, Druckstöcken für Stoffmuster auf Seide und Baumwolle… Das alles in Räumen mit geschnitzten Rosenholzdecken, Teak- und Mahagoniböden, die auch erklären, warum man die Schuhe ablegen muss. Über allem schwebt ein leichter Sandelholzduft. Er entströmt den mit Sand gefüllten Gefässen, in denen Räucherstäbchen vor sich hin glimmen. Bei mir weckt das Assoziationen an Hippie-Zeiten, doch in der schwülen tropischen Hitze Südindiens lernt man rasch, dass diese Räucherdüfte einerseits Moskitos vertreiben, andererseits üblere Gerüche überdecken.

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Foto: Eine der Vitrinen im Museum – u.a. mit Brustpanzern für das hinduistische Theyyam-Ritual

In Internetkommentaren hatte ich zwei sehr gegensätzliche Aussagen zu diesem Museum gefunden: es sei eine überfüllte, dementsprechend anstrengende Rumpelkammer ohne jeglichen didaktischen und wissenschaftlichen Anspruch, lautete das schärfste Verdikt. Andere Stimmen hingegen meinten: Grossartig, diese geradezu archaisch wilde Sammlung von volkstümlicher Kunst, einzigartig und wertvoll. Diese widersprüchlichen Aussagen hatten mich unter anderem bewogen, mir selber ein Bild zu machen. Ich schliesse mich der zweiten Meinung an, die übrigens auch jene der Mehrheit der Besucherinnen und Besucher ist. Sicher kann einen die Fülle der Exponate erschlagen, und sicher ist es bedauerlich, dass man in dem Museum nicht besonders viele Informationen über die ausgestellten Werke in Form von Schildchen oder Saaltexten vorfindet, sich also eher vom ästhetischen Erlebnis, von der eigenen Sensibilität für Farben und Formen als von einer systematischen oder historischen Erschliessung leiten lassen muss.

Aber wiegt uns ein Museum, das nach allen Regeln der aktuellen Museumspraxis und -didaktik eingerichtet ist, diesbezüglich nicht auch in einer Illusion? Die Konservatoren und Kuratoren wählen zwar für uns aus, was sie respektive die kunsthistorische oder ethnologische Überlieferung für wichtig und qualitativ bedeutsam halten, bereiten es wissenschaftlich auf und ordnen es ein. Doch gleichzeitig enthalten sie uns vieles vor, nicht zuletzt einen unvoreingenommenen Blick. Wie oft schauen wir in Museen erst auf den Namen des Künstlers und dann erst auf das Bild…. Beide Strategien der Präsentation haben also ihre Vor- und Nachteile. Das meint auch Luis, ein spanischer Übersetzer und Schriftsteller, der auf den Spuren der Architektur Keralas aus Goa angereist ist und der sich ganz gut auszukennen scheint mit der indischen Volkskunst. Er ist begeistert, endlich mal ein „nicht-kuratiertes“ Museum vorzufinden. Ich treffe ihn in der ersten Etage des Museums vor einer Vitrine mit Masken treffe, vor denen er fast in die Knie geht vor Begeisterung.

Auf dieser ersten Etage verweile auch ich selber länger. Mit einer der Frauen, Annie, die die Räume bewachen und zugleich für Informationen zur Verfügung stehen, komme ich ins Gespräch. Sie fragt mich, ob ich den Museumsgründer kennenlernen wolle, und als ich bejahe, stehe ich wenig später George Thaliath persönlich gegenüber, der sich als Annies Mann entpuppt. Er lädt mich mit ihr zusammen ein, auf einem Sofa im Museumssaal Platz zu nehmen. Sofort wird mir Tee angeboten. George erzählt die Geschichte des Museums, berichtet von seinen jahrelangen Touren durch die Dörfer Keralas, wo er die Volkskunst zusammenträgt und sich die dazugehörigen Geschichten erzählen lässt. Das Museum als Stiftung finanziert sich inzwischen durch die Besucher und den (moderaten) Eintritt selber, erhält aber keine Unterstützung von den Behörden.

Ich zeige mich verwundert darüber und höre heraus, dass die staatlichen Stellen offenbar andere Prioritäten haben oder zu wenig organisiert sind oder womöglich auch zu wenig Geld haben. Es werde zwar viel Geld in die Kochi-Biennale gesteckt, aber das kulturelle Erbe vernachlässigt, meint George Thaliath, und behauptet sogar, es gebe vor Ort so manche, die sich an der Kochi-Biennale bereicherten. Ich kann das alles nicht beurteilen und werfe ein, dass die Biennale sicher ein nationales , ja sogar internationales Publikum nach Kochi führe, das sich nicht nur für zeitgenössische Kunst, sondern auch genereller für die Kultur des Landes interessiere. Ich sei dafür geradezu ein Paradebeispiel. Doch Thaliath scheint hier eher negative Erfahrungen gemacht zu haben; man habe sein Museum sogar einmal zur Biennale eingeladen, doch dann hätten es die Organisatoren nur auf seine antiken Holzwände und -decken für die Dekoration einer Cafeteria abgesehen gehabt. Das sei doch ein Missverständnis.

Einen Moment lang geht mir durch den Kopf, dass Thaliath als ehemaliger Kunsthändler vielleicht für die lokalen Autoritäten, die die Kochi-Biennale mitfinanzieren, kein ganz einfacher Partner ist, weil er sicher sehr genau weiss, was er will und die Materie gründlich kennt. Ausserdem verkauft er auch einzelne Werke aus den Beständen, um den Betrieb zu unterhalten, was aber nach international gültiger museologischer Auffassung zwar für ein privates, kaum jedoch für ein öffentlich (mit-)finanziertes Museum geht. Auch die heutigen Standards, was den Kulturgüterschutz betrifft, machen die Sache sicher nicht einfacher. Das hat allerdings auch eine Kehrseite: gerade in ärmeren Ländern können wertvolle ethnologische Objekte verloren gehen, wenn es keine Ressourcen oder kein ausreichendes Interesse oder Verständnis dafür gibt, sie zu sammeln und zu schützen. Und deswegen können hier Liebhaber wie George Thaliath eine wichtige Rolle spielen.

George und Anni seine Frau als gründer des Museums

Foto: George Thaliath, links seine Frau Annie, die Gründer des Kerala Folklore Museums, aufgenommen bei meinem Besuch im Museum am 24. März 2017

Ich äussere George Thaliath gegenüber mein Erstaunen, dass es offenbar keine professionellen Kontakte des Museums mit wichtigen ethnologischen Sammlungen in Europa gibt, zum Beispiel dem Musée Guimet in Paris oder, noch naheliegender in Indien, mit dem British Museum. Thaliath zeigt mir daraufhin einen umfangreichen Bildband über seine Sammlung, den er 2013 herausgegeben hat. Stolz schlägt er die erste Doppelseite auf, die den Besuch von Prinz Charles zusammen mit seiner Frau Camilla vor einigen Jahren im Museum dokumentiert. Allerdings, sagt Thaliath auf meine Nachfrage, sei die Visite bis heute folgenlos geblieben. Es ist für mich, die ich weder die lokalen noch nationalen Verhältnisse in der Kulturpolitik Indien und Keralas kenne und auch nicht einschätzen kann, wie bedeutend diese Sammlung aus Expertensicht ist, schwierig, die Aussagen von George Thaliath einzuordnen oder zu überprüfen. Aber es erscheint mir als keineswegs unwahrscheinlich, dass es in einem Land wie Indien, in dem man auf Schritt und Tritt spürt, dass es trotz aller Entwicklungen wirtschaftlich am Kämpfen ist, derzeit andere Prioritäten gibt als die Sicherung des volkstümlichen kulturellen Erbes. So war mir auf dem Weg vom Flughafen gleich neben einer riesigen Solaranlage eine ebenso grosse Müllhalde aufgefallen, auf der Menschen im Müll stocherten. Später erfuhr ich, dass es keine geregelte Müllabuhr in der Millionenstadt gibt. Man sieht es am überall herumliegenden Unrat.

Was die Kulturgüter betrifft, kommt mir als parallele Geschichte in den Sinn, dass der chinesische Künstler Ai Weiwei sich in seinem Werk immer wieder für den Erhalt des kulturellen Erbes Chinas einsetzt, das infolge der rücksichtslosen und rasanten Modernisierung unter die Räder zu geraten droht. Vielleicht ist es hier in Indien, sogar im vergleichsweise wohlhabenden Bundesstaat Kerala, ähnlich: Es braucht erst die dauerhafte und überzeugte Initiative einzelner für kulturelle Werte, bevor die breitere Öffentlichkeit vielleicht mit der Zeit darauf aufmerksam wird. Denkmal- und Heimatschutz ist darüber hinaus, das führt mir dieses Museum plastisch vor Augen, wohl auch etwas für entwickelte und gefestigte Gesellschaften, die die Ressourcen haben, um sich den genüsslichen wie erkenntnisreichen Blick zurück leisten zu können. Und natürlich geht es bei solchen historiographischen oder ethnologischen Vorhaben immer auch darum, sich der eigenen kulturellen Identität durch die Fürsorge für historische Artefakte zu versichern. Eines ist klar: Eine Sammlung wie jene des Folklore Museum Kerala auf den gängigen internationalen museologischen Standard zu bringen, beispielsweise die Bestände wissenschaftlich zu erschliessen, das würde wohl mühelos ein mehrköpfiges Team beschäftiges.

Grosse Überraschung zum Schluss: Am Ende unseres Gesprächs, bei dem ich auch von meiner Tätigkeit in der Kulturförderung berichtet habe, schenken mir George J. Thaliath und seine Frau, die sich riesig über mein Interesse gefreut haben, den Bildband über ihre Sammlung. Es ist mehr als nur ein opulentes Buch zum Durchblättern; der Verfasser gibt darin einen Überblick über die Sammlung, gegliedert nach Gebieten und begleitet von den Ergebnissen seiner Recherchen zur Volkskunst von Kerala, soweit diese für ihn möglich waren. Das Kompendium gibt sich bescheiden und vertritt keinen wissenschaftlich Anspruch. Es hat aber den Charakter einer Pionierarbeit und dürfte auch deswegen innerhalb kurzer Zeit schon die zweite Auflage erreicht haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass irgendwann der Moment kommt, in dem diese Sammlung noch breitere Anerkennung und professionelle Würdigung erfährt. Für kulturinteressierte Besucher von Fort Kochi und Kerala lohnt es sich jedenfalls schon jetzt, durch diese reichhaltigeSammlung mit ihrem Charme einer Wunderkammer zu streifen.

(Fortsetzung folgt….)

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Homepage des Kerala Folklore Museum:  http://www.keralafolkloremuseum.org

(c) Barbara Basting, März 2017