Der Algorithmus und ich (5): Die Tiere vom Taksim

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Ich sitze in der Lobby eines Hotels in China. Zum Hotel inmitten einer toskanisch anmutenden Landschaft, in das ich mit anderen Gästen eines wissenschaftlichen Kolloquiums einquartiert wurde, gehören ein Golfplatz, ein Thermalbad sowie eine weitläufige Ferienhaus-Kolonie.
Am Horizont Hochhäuser und das Gelbe Meer. Die Gegend gilt als Riviera Chinas und grenzt an die Stadt Qingdao. Unter Kaiser Wilhelm II. war sie für kurze Zeit deutsche Kolonie. Heute boomt die Stadt nicht nur wegen der damals gegründeten Brauerei.
In der Lobby steht ein Glücksspielautomat fürKinder. Man kann Plüschtiere von Walt Disney angeln. Die Bilder von ausgebeuteten Arbeiterinnen in chinesischen Fabriken kommen einem hier schneller als sonst in den Sinn.

Als ich kurz darauf meine Facebook-Seite aufrufe, meine ich zu halluzinieren. Denn der Facebook-Algorithmus präsentiert mir ausgerechnet ein Erinnerungsbild mit Plüschtieren. Haben die inzwischen Umgebungssensoren in ihrer App? Die Aufnahme hatte ich am 10. September 2013 auf dem Taksim in Istanbul gemacht. Ich war für die Istanbul-Kunstbiennale angereist. Im Mai zuvor waren die Gezi-Park-Proteste gewaltsam
niedergeschlagen worden. Die Stimmung war spürbar angespannt. Zwar standen die Simit-Verkäufer mit ihren altmodischen Wägelchen wie gehabt auf dem Platz, als sei nichts geschehen, und wie in früheren Jahren kaufte ich einen der
spottbilligen Sesamkringel bei einem Verkäufer, der erzählte, ein geflüchteter Ingenieur aus Syrien zu sein. Ringsherum zog bedenklich viel Polizei auf, postierte sich neben den zahlreichen Absperrgittern. Die zuvor zahlreichen Passanten
verflüchtigten sich in Windeseile. Einer der Straßenhändler ließ Plüschtiere tanzen.
Ich erinnere mich, dass ich sie fotografierte, weil sie mir symbolhaft erschienen: Ablenkung und Beschwichtigung angesichts einer ungemütlichen Lage. Zügig lief ich zur Fußgängerzone Istiklal zurück. Gruppen von Demonstrierenden kamen mir entgegen. In den Seitengassen warteten schwere Panzerwagen mit Wasserwerfern. Busse entließen nervöse junge Polizisten in Kampfmontur, halbe Milchbärte, die Gebetsschnur in der einen, die Knarre in der anderen Hand. Auf der Höhe der englischsprachigenBuchhandlung von Galatasaray, in der ich kurz verweilte, stach mir Tränengas ins Auge. Fast im Laufschritt suchte ich mein nahegelegenes Domizil auf. Unterwegs rasselten vor den Läden schwere Eisengitter herunter. Später hörte ich Geknalle, Rufe und Getrappel. Am nächsten Tag las ich, dass es keine Toten gegeben habe.

Das Bild der Tiere vom Taksim ruft diese Erinnerung wach und schiebt sie vor den Anblick der Tiere im chinesischen Glücksspielautomaten, während ich zugleich damit beschäftigt bin, meine Eindrücke aus ein paar wenigen Tagen in China zu sortieren. Gibt es nicht gewisse Ähnlichkeiten mit der Türkei, wie ich sie nach 2000 zuerst kennengelernt hatte? Ein futuristisch gestimmtes Land, das sich mit Haut und Haaren dem Fortschritt verschrieben hatte. Eine stolze Gesellschaft, deren Gewinner ihre Privilegien demonstrativ genießen, als könnten sie auf diese Weise allen, die es noch nicht geschafft haben, als Vorbild dienen. Künstlerische und intellektuelle Eliten, die sich behutsam Freiräume zu schaffen versuchen. In der Türkei war es eine Zeit, in der viel möglich schien. Vorbei. Wie sich eine prosperierende Konsumgesellschaft auf den zentral gelenkten chinesischen Staat auswirken wird, kann niemand sagen. Manche unken, es komme darauf an, ob der Automat genügend Tiere für alle bereitstellt.

PS: Der FB-Aktie geht es nicht mehr wirklich gut seit dem Absturz im Sommer.
Dauernd tauchen neue Probleme auf, zuletzt ein Hackerangriff auf 50 Millionen Profile:
https://www.wired.com/story/facebook-security-breach-50-million-accounts/
Anzeichen einer FB-Dämmerung? Chinesen haben andere Sorgen. Für sie liegen
Facebook & Co. hinter der Great Firewall.

(Zuerst erschienen/first published in: Diaphanes Magazin 5, 2018 Diaphanes Magazin 5

The Algorithm and I (5): The Taksim Animals

I sit in the lobby of a hotel in China where I am accommodated along with other guests of an academic colloquium. Set in the middle of a vaguely Tuscan landscape, it includes a golf course, a thermal spa, and an extensive colony of holiday homes. Skyscrapers and the Yellow Sea on the horizon. The region is considered to be the Chinese Riviera, and borders on the city of Qingdao. Under Emperor Wilhelm II it was briefly a German colony. Today the city is booming, and not just because of the German-founded brewery.
The lobby contains a children’s slot machine. You can fish for Walt Disney plush toys. Images of exploited workers in Chinese factories come quicker to mind here than elsewhere. When I access my Facebook page, I think I’m hallucinating, for the Facebook algorithm presents me with a souvenir picture of stuffed animals. Does their app now contain proximity readers? I took the photograph on September 10, 2013, on Taksim Square in Istanbul. I was there for the Biennial. The Gezi Park protests had been violently put down in May. The atmosphere was palpably tense. The simit sellers were standing on the square with their old-fashioned trolleys as usual, as if nothing had happened, and as in previous years I bought one of the dirt-cheap sesame rings from a seller who told me he was a refugee engineer from Syria. Suddenly there was an alarming police presence by the numerous crowd barriers. The hitherto numerous passers-by dispersed with lightening speed. One of the hawkers was making plush toys
dance. I remember taking a photograph of them, because they seemed to me to be symbolic: distraction and placation in an uncomfortable situation. I walked swiftly back to the Istiklal pedestrian zone. Groups of demonstrators approached me. Heavily armored vehicles with water cannons waited in the side streets. Busses released nervous young policemen in combat gear, wet behind the ears, prayer beads in one hand, gun in the other. Teargas stung my eyes at the English-language bookstore in Galatasaray, where I stopped briefly. I almost ran to where I was staying nearby. Heavy iron grating rattled down in front of the shops as I passed. Later I heard gunshots, shouts, and clattering. Next day I read that there had been no fatalities. The picture of the Taksim animals awakens these memories, and superimposes them onto the sight of the animals in the Chinese slot machine while I am simultaneously trying to sort through my impressions of just a few days in China. Aren’t there certain similarities with Turkey, which I first got to know after 2000? A futuristic country, entirely devoted to progress. A proud society, whose winners demonstratively enjoy their privileges, as if in this way they could serve as models for all those who haven’t yet made it. Artistic and intellectual elites cautiously trying to create room to manoeuver. In Turkey it was a time when much seemed possible. Over and gone. No one can tell how a prospering consumer society will effect the centrally controlled Chinese state. Some wags say it all depends on whether the
slot machine has enough plushies for everyone.

PS: the FB share is no longer doing very well, since the crash in summer. New
problems are continually turning up, most recently a hacker attack on 50 million
profiles: https://www.wired.com/story/facebook-security-breach-50-million-accounts/
Sign of an FB twilight? The Chinese have other worries. For them Facebook & co.
lie beyond the Great Firewall.