Was passieren kann, wenn ein Ort vollständig von einem Unternehmen abhängig ist. Eine Reiseimpression aus den USA 2016.
Nur wenige Routen führen in das Death Valley und wieder hinaus. Diejenige durch das Panamint Valley, die wir für den Rückweg nach einem kurzen Ausflug in das Tal des Todes wählten, ist nicht besonders üblich. In den Führern wird sie nur beiläufig erwähnt. Die Rangerin im Furnace Creek Visitor Center erklärte, ja, die Route sei eine Möglichkeit. Für den Rückweg nach Los Angeles sei sie, das lasse sich sagen, wesentlich kürzer als der Weg über Shoshone, Baker und Barstow, den wir in Unkenntnis der Strassenverhältnisse geplant hatten. „It’s a possibility“. Es klang nicht eben nach einer Empfehlung.
Als wir im Panamint Valley waren, verstand ich die Reaktion der Rangerin. Die Strecke war schlechter ausgebaut als die klassische Touristenroute in Richtung Las Vegas oder zurück nach Olancha, woher wir gekommen waren. Grober Asphalt, rissig und schrundig geworden unter der gnadenlosen kalifornischen Sonne und vielleicht vom einen oder anderen Erdbeben. Rechts und links struppige Wüstenvegetation, grau eingepudert. Am Horizont graublau schwebende Bergketten, von denen schwer zu sagen war, wie weit sie entfernt waren. Vielleicht eine Fata Morgana. Die Fahrt war holprig, denn wir Greenhorns hatten keinen SUV, sondern nur einen Kleinwagen gemietet. Nach dem Spektakel der Fels- und Dünenformationen im Death Valley war sie auch eintönig und einsam. Auf vielleicht fünfzig Meilen begegneten wir nicht mehr als zwei, drei anderen Fahrzeugen. Zu den Überraschungen gehörte eine kilometerlange Baustelle. Bauarbeiter, wie immer aus der Latino-Bevölkerung des Landes, die freundlich zurückwinkten, als ich beim Vorbeifahren die Hand zum Gruss hob, verbesserten mit schwerem Gerät den Belag. Schleierhaft, warum sie das ausgerechnet hier taten, wo fast niemand durchfuhr. Wir kannten Strassen in Kalifornien, wo solche Reparaturarbeiten wesentlich dringender gewesen wären. Die ausgefahrenen Freeways rund um Los Angeles, über die tagtäglich Abertausende schwere Lastwagen donnerten und die Spurrillen vertieften, oder den Sunset Boulevard in Los Angeles, an dessen westlichem Ausläufer wir wohnten und der, abgesehen von einem wie handpolierten kurzen Stück in der superreichen Enklave von Beverly Hills, über weite Strecken von Schlaglöchern durchsetzt war.
Die Ausbesserungsaktion im Panamint Valley zwang uns auf eine parallele Ersatzpiste mit scharfkantigem Schotter und Bodenwellen, was unsere Angst vor einem Reifenplatzer im dümmsten Moment steigerte. Am Vortag hatten wir auf dem Hinweg von Olancha nach Stovepipe Wells einen Sandsturm im hinteren Teil dieses Tales erlebt. Eigentlich eher eine Windhose. Nur ein kurzes Stück mussten wir hindurch fahren. Fast keine Sicht, das feine Prasseln von Sand auf der Karrosserie, trockenste Staubluft im Innern: Diese Kostprobe hatte genügt. Ich dachte an die Geschichten von den Siedlern, die sich einst mit ihren Planwagen durch solche Gegenden und Widrigkeiten gekämpft hatten. Was, wenn man hier plötzlich festsass und dann noch ein richtiger Staub- oder Sandtornado auf einen zustiebte? Einen gar unter sich begrub? Und niemand vorbeikam, der es merkte? Das Smartphone zeigte keine Verbindung an.
Zu den weiteren Höhepunkten der Fahrt zählte ein ausgeblichenes Schild am Strassenrand, das auf eine Geisterstadt aus der Goldgräberzeit in der Wüstenei verwies, sowie eine Staffel Tiefflieger, die uns einen gewaltigen Schrecken einjagten. Sie mussten aus den in der Rand McNally-Karte verzeichneten, nahe gelegenen Basen der U.S. Marines stammen. Die Horrorszene aus Hitchcocks North by Northwest kam mir in den Sinn, und dass im Visitor Center von Furnace Creek auf einem Zettel gewarnt worden war vor diesen Tieffliegern. Die Rangerin hatte aber nichts davon gesagt.
Nach einer letzten scharfen Steigung über eine Passhöhe sollte bald ein kleiner Ort mit zugehörigem Flughafen folgen. Tatsächlich, Richtung Westen näherten wir uns besiedeltem Gebiet. Der Flughafen war eher ein improvisiert wirkender Flugplatz. Die Radarantenne sah lächerlich aus, wie ein überdimensionierter Ventilator. Flugzeuge waren weit und breit keine auszumachen. Überhaupt schien die Ortschaft ziemlich verlassen. Sie begann mit einer wilden Deponie, franste mit stacheldrahtumzäunten Grundstücken voller flacher Autowracks, auf Kiel gelegter Boote und Industrieschrott, alten Baugeräten, rostigen Fahrzeugen aller Art, Maschinen links und rechts der Strasse in die Wüste aus. Dann tauchte endlich das Ortsschild auf: Trona. Erste Häuser rechts der Strasse, manche kaum grösser als Hütten. Sie erinnerten mich an die Fotos, die die Farm Security Administration zur Zeit der Grossen Depression zwecks Dokumentation der schwierigen Situation der Bauern in Auftrag gegeben hatte. Viele der einfachen Bleiben waren verlassen. Die Türen hingen schräg in den Angeln oder fehlten ganz. Fenster waren vernagelt oder zerbrochen. Da und dort waren die Dächer eingestürzt und Brandspuren sichtbar. Angekokelte Dachpappereste, verbeultes Wellblech, zerknüllte Plastikplanen. Alles schäbig, billigst gebaut schon von Anfang an und jetzt, im Zustand der Zerstörung und des Verfalls einfach nur noch: Müll. Links der Strasse fiel die Böschung flach und staubig zu einer flirrenden, in der Ferne verheissungsvoll glitzernden Sandfläche ab. Der Searles Lake oder was davon übrig geblieben war. Spuren des über Jahre abgesunkenen Wasserspiegels wie Schmutzränder in einer alten Badewanne. Solche Seen, von denen manche nur noch aus einem kleinen feuchten Auge in der Mitte bestanden, waren mir schon beim Anflug nach Los Angeles über die Ausläufer der Sierra Nevada aufgefallen. Aufgesogen von der Sonne wie Pfützen nach einem Platzregen an einem heissen Sommertag. Verschwunden, wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen.
Wir näherten uns einer Art Ortskern. Rechts und links der Strasse waren in den versteppten Vorgärten diverse Stadien der Zersetzung von Relikten einer Zivilisation ausgestellt, die hier zu einer anderen Zeit existiert haben musste. Zu Sorbetfarben gebleichtes Plastikspielzeug neben bräunlichen, vertrockneten Topfpflanzen und strohbrauner struppiger Vegetation. Zusammengebrochene Hollywoodschaukeln und schwarze Skelette grosser, in sich zusammengestürzter Barbecue-Grills. Ein Abzweig von der Durchgangsstrasse war beschildert: Cemetery. Der Hinweis wirkte überflüssig. Dann kamen einige etwas gepflegtere Häuser. Sie schienen bewohnt. Zu dieser Nachmittagsstunde an einem Werktag, die Oktobersonne knallte noch immer, sah man keine Menschenseele. Sogar Autos, die sich in dieser postapokalyptischen Umgebung wie blecherne Mutanten übergrosser Insekten bewegten, waren rar.
Wir wollten etwas trinken, einen Kaffee oder einen Icetea. Rechts am Strassenrand sahen wir das einzige Geschäft, das hier noch geöffnet schien. Das Modell stammte aus dem unendlichen Katalog der amerikanischen Schuhschachtelarchitektur, den Robert Frank, William Egglestone, Stephen Shore, Ed Ruscha und viele andere fotografiert hatten. Es gab in dem Deli mit Liquor, den die nüchterne Schablonenschrift auf der Fassade ankündigte, so ziemlich alles, was man im Alltag brauchen konnte. Auch Aufkleber, um den Stolz auf die amerikanischen Truppen kundzutun. In dem höhlenartig düsteren, angenehm gekühlten Laden waren wir die einzigen Kunden, vom Ladenbesitzer hinter der Kasse, einem hageren älteren Mann, mit unfreundlichem Blick verfolgt. Der Kaffee aus dem Automaten war lauwarm. Der Mann zählte das Rückgeld, die Dimes und Cents, fingerfertig ab, so dass ich seine Handprothese erst gar nicht bemerkte. Meiner idiotischen Frage, was es mit den wilden Deponien am Ortseingang auf sich habe, wich er bärbeissig aus. Die spontane Offenheit und ewig lächelnde Freundlichkeit, die sonst geradezu das Kennzeichen der Menschen in Kalifornien zu sein schien, selbst der weniger Privilegierten, ging ihm ab. Es seien eben Schrotthalden wie überall, erklärte er mürrisch. Any questions left? Als ich wieder ans Licht trat, auf den verwaisten Parkplatz vor dem Laden, bog gerade ein Schulbus um die Ecke. Kurze Zeit später kam ein Mädchen im Teenageralter vorbei, das wohl gerade aus dem Bus ausgestiegen war. Sehr schnell war sie verschwunden. Es gab also immerhin noch Jugend in Trona. Es gab sogar, wie wir, während wir unseren Kaffee schlürften, einem Aushang an der Tür des Deli entnahmen, einen Footballclub. Trona Tornados. Eigenartiger Humor. Bezog sich wohl darauf, dass jede Bewegung auf dem vertrockneten Terrain einen Mini-Tornado auslöste.
Die Vorgärten einiger der bewohnten Häuser in der Nähe des Deli waren mit Fahnenmasten gespickt, als sei es in dieser Umgebung besonders wichtig, sich zu etwas zu bekennen. Vor allem zu Amerika. Neben der amerikanischen und der kalifornischen Flagge mit dem gemütlichen Bär gab es gleich gegenüber des Deli auch eine, die einen Vietnam-Veteranen anzeigte. Der vorm Haus flatternde Veteranenstolz half ihm vielleicht durch den Alltag. Wohnte hier der Ladenbesitzer, war Vietnam der Grund für seine Armprothese?
Die unendlich langgestreckte Haupt- und Durchgangsstrasse führte an einer auffälligen, sichtlich in die Jahre gekommenen weissen Holztafel vorbei. Hier warb eine ganze Reihe von Kirchen für sich. Eine von ihnen sahen wir. Sie kündete von einstigem architektonischem Ehrgeiz. Spätestmodernismus. Dann folgten nur noch eine riesige, veraltet wirkende Industrieanlage mit Förderbändern. Neben der Strasse verlief inzwischen auch eine Bahnlinie. Eingleisig. Kein Bahnhof weit und breit. Nur Güterverkehr. Union Pacific. Mineralien. Weisse, sandige, kegelförmige Aufschüttungen. Borax. Kali. Rohstoff aus der Wüste.
Etwas war passiert mit diesem Ort, das uns der Delibesitzer nicht verraten wollte. Aus Scham, aus Wut, aus Resignation. Waren klimatische Veränderungen, von denen der ausgetrocknete See zeugte, die Ursache für den offensichtlichen Niedergang von Trona? Waren hier früher mehr Touristen Richtung Death Valley durchgefahren, bevor die Route über Olancha jenseits der nächsten Bergkette Standard wurde? Hatten gar die Strassenarbeiten im Panamint Valley damit zu tun, wollte man dem Ort helfen, mit einer verbesserten Strasse wieder mehr Durchgangstouristen nach Trona zu bringen? Ich erinnerte mich an die auf Kiel gelegten, angerosteten Boote beim Ortseingang. Vielleicht war Trona einst sogar ein Erholungsort gewesen? Drei Autostunden von Los Angeles entfernt, keine Distanz für amerikanische Verhältnisse. So eine Art Palm Springs. Andererseits, absurd. Warum sollte man in diese Wüstenei fahren, wenn man am Pazifik wohnte. War vermutlich höchstens interessant, wenn die Wüste nach Regenfällen doch einmal lebte, wie es Walt Disney in seinem Film versprochen hatte. Oder hatte es Veränderungen in der Disposition des Militärs gegeben? Waren Einheiten verschoben worden, Arbeitsplätze weggefallen?
Das Internet gibt unter dem Stichwort „Trona“ nebst Unmengen von Hinweisen auf das gleichnamige Mineral einen Wikipedia-Eintrag von einer am 4. Oktober 2006 unter dem Titel „Solitary, Splendid Squalor“ erschienenen Reportage zu Trona von David Kelly aus der Los Angeles Times bekannt. Demnach war der Ort 1914 als Firmen-Bergbaustadt von der American Trona Corporation gegründet worden. Schon 1863 hatte ein Goldsucher namens John W. Searles hier statt Gold Borax gefunden und parallel zur legendären „Twenty Mules Teams“ im Death Valley mit dem Bergbau begonnen. Doch der eigentliche Aufschwung hatte sich dem Kalibergbau verdankt, zunächst während des 1. Weltkriegs. Ohne Kali kein Schiesspulver, und durch die Vorkommen in Trona waren die USA unabhängig von Importen. Zu den besten Zeiten, in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg, hatte es im Searles Valley über 6000 Einwohner gegeben. Der Niedergang war besiegelt, als die letzte Besitzerin der Searles Company, die American Potash & Chemical, 1982 das Management und die Ingenieure nach Oklahoma verschob. Von den Einwohnern Tronas zu seinen inzwischen völlig unvorstellbaren, wenn auch sicher bescheidenen Glanzzeiten blieb zuletzt weniger als ein Fünftel übrig. Mit dem Verschwinden der Arbeitsplätze verminderte sich auch die Lebensqualität drastisch. Freaks wie die berüchtigte Manson-Family des Mörders Charles Manson hatten hier und im Panamint Valley in irgendwelchen Hütten Unterschlupf gesucht und trugen zur Fama des Ortes bei.
Trona hatte aber noch weit mehr zu bieten. Wegen der in der Nähe gelegenen Trona Pinnacles, skurrilen Basaltformationen, die für mehrere Filme inklusive Star Trek und Planet of the Apes als Kulisse gedient hatten, war es von Hollywood verewigt worden. Auch wir hatten den Hinweis am Strassenrand gesehen. Die Filme kannte ich nicht, von daher war mir ihre Kulisse recht egal. Aber die Pinnacles waren selbst aus der Entfernung spektakulär. Auf den Abstecher dorthin, der über einen besseren Feldweg führte, verzichteten wir dann doch mangels SUV, Kompass und Zeit.
In jüngerer Zeit hatte Trona sich, das war die Bilanz der kurzen Internet-Recherche, vor allem eine Reputation als angehende Geisterstadt der Gegenwart erworben. Noch war die Stadt nicht reif für die Wiederentdeckung durch einen verkitschten Erlebnistourismus, der kalifornische Geisterstädte aus der Zeit des Goldrushs wie beispielsweise Calico erreicht hatte. Noch präsentierte sich Trona eher als eine für jede Verwaltung unangenehme Demonstration des wirtschaftlichen und politischen Versagens. Eines Versagens auf allen Ebenen, nicht nur auf der lokalen. Vielleicht würde es auch gar nie wiederentdeckt werden, weil es inzwischen zu viele solche Orte gab und sie, wie beim Goldrausch, nur interessant waren als Ausgangspunkte einer Erfolgsgeschichte, nicht als Orte einer grossen Depression.
Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen standen unmittelbar bevor, und es fiel einem selbst nach einer kurzen Durchfahrt nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieser Ort ein Reservoir für die Wähler des wohl hässlichsten Kandidaten sein musste, den die Grand Old Party je hervorgebracht hatte. Dabei waren wir hier immer noch in Kalifornien, einem Staat, der eine enorme Wirtschaftskraft hatte, der Treiber war bei der digitalen Wende des 21. Jahrhunderts mit ihren globalen Auswirkungen, der traditionell demokratisch wählte und viel mehr Perspektiven bot als die meisten Gegenden im Landesinneren der Vereinigten Staaten. Das Problem war, dass dieses Land im Innern vermutlich voller Tronas war. Wir kannten sie nicht. Wir, die wir immer nur die geschäftigen, erfolgreichen und weltoffenen Kapitalen an der Küste vor Augen hatten, wenn wir an die USA dachten, machten uns einfach keine Vorstellung von den Zurückgebliebenen, den Opfern der Entwicklung, den Zukurzgekommenen und Wütenden. John Steinbecks grosser Roman „Grapes of Wrath“, der die Not der Unterprivilegierten, der billigen und ausgebeuteten Arbeit in der Zeit der grossen Depression schildert, hatte ich noch nicht gelesen damals.
Mir kam meine Fahrt durchs ländliche Pennsylvania in den Sinn, im Jahr 2003, als der zweite Golfkrieg im Gang war und an den Haustüren blassgelbe Schleifen hingen als Zeichen für Männer aus dem Haushalt, die im Krieg waren. Es waren viele gelbe Schleifen in einer Gegend, in der die Stahlindustrie einst floriert hatte und die Siedlungen und kleinen Städte heruntergekommen wirkten. Das Militär, die Zuflucht zu Uncle Sam, in die untersten Ränge, dort, wo man verheizt wurde im Nahen Osten und sonstwo, blieb oft als einzige Option für jene, die keine Arbeit mehr fanden. Abends in der idyllischen privaten Unterkunft nahe einer Farm hatte ich den Fernseher eingeschaltet und eine Sendung gesehen über George W. Bush. Er begrüsste einen Flugzeugträger bei der Rückkehr aus dem Golfkrieg, den er damit für beendet erklärte. Es stellte sich bald heraus, dass dies eine mediale Inszenierung war. Die Realität war anders. Daneben liefen Berichte über Militärs, die von ihrem Lohn ihre Familie nicht ernähren konnten, und über Veteranen, denen das Geld für die medizinische Versorgung fehlte, zu schweigen von einer Behandlung ihrer oft schweren Kriegstraumata. Die Sendungen wurden in kurzen Abständen von Spendenaufrufen unterbrochen. Donate, donate. Der amerikanische Refrain. Der Ort des Geschehens war keine zweihundert Kilometer von der Ostküstenkapitale Philadelphia entfernt, keineswegs in irgendeinem zurückgebliebenen Landesinneren, dem „heart of the heart of the country“, wie der Schriftsteller William Gass es genannt hatte.
Im Internet fand sich ein neuerer Fotoblog zu Trona. Er entschädigte mich ein wenig dafür, dass ich selber mangels Zeit und vielleicht auch, weil ich es instinktiv nicht richtig fand, weil fast so eine Art von billigem Katastrophen-Fototourismus, nicht mehr fotografiert hatte als das Schuhschachtel-Deli. Der Fotograf war in die leerstehenden, offenen Häuserruinen hineingegangen. Seine Aufnahmen zeigten Wohnräume, die aussahen, als seien Menschen überstürzt geflüchtet und hätten alles stehen und liegen gelassen, sogar halbgare Pommes frites im Ofen, Kleider, die herumlagen wie soeben abgestreift, Spielsachen, Möbel und Haushaltgeräte, die sicher noch funktioniert hatten. Eine postapokalyptische Szene, Bilder, wie man sie aus den verlassenen Atomkatastrophen-Wüsteneien von Tschernobyl oder Fukushima kannte. Die Kommentare zum Blog stellten Fragen. Was war hier passiert? Seltsamerweise gab niemand eine Antwort. Meine Neugierde war geweckt. Eine weitere Homepage, die Immobilien und Grundstücke in Trona für läppische, aber vermutlich immer noch zu hohe Summen zum Verkauf bot, wenige tausend Dollar für ein einfaches Haus mit Grundstück, liess einen möglichen Grund ahnen. Viele der Häuser waren von Banken beschlagnahmt worden. Die ehemaligen Bewohner musste man sich als säumige Schuldner vorstellen, die sich aus dem Staub gemacht hatten, kurz bevor der Zwangsvollstrecker klingelte. So also sah die Finanzkrise von 2008 in der Wirklichkeit aus: ein Ort ohne Perspektiven und Arbeit, Leute, die sich für Häuser verschuldet hatten, deren Wert nun ins Bodenlose sank und denen nur noch die Flucht blieb. Einen Moment lang brachte ich die Bilder mit jenen der Legionen von völlig verlumpten, oft drogensüchtigen Obdachlosen zusammen, die wir in Los Angeles und vor allem in San Francisco, aber selbst in den florierenden Küstenorten Venice, Santa Monica, sogar im luxuriösen Malibu in grosser Zahl gesehen hatten. Aber das war nur eine Vermutung. Vielleicht war auch alles ganz anders gewesen. Vielleicht wollten die Menschen nicht selber aufräumen nach dem Debakel, in das sie nach dem Zusammenbruch der Industrie in Trona geraten waren. Vielleicht fehlte ihnen einfach die Kraft dazu. Erstaunlich war das nicht. In der Wüstenhitze hielt sich die Lust zur Arbeit sicher in Grenzen. Vor allem, wenn es weiterhin keine Aussicht auf eine bessere Zukunft gab.
Als ich noch weiter im Internet herumsurfte, traf ich auf ergiebigere Hinweise für die Ursachen der Misere: Crystal Meth, das in Verbindung mit der wirtschaftlichen Depression seine desaströse Wirkung entfaltete. Dabei erfuhr ich auch, dass der deutsche Fotograf und Künstler Tobias Zielony, der zuletzt im deutschen Pavillon an der Biennale in Venedig prominent vertreten war, in Bild und Text vor einigen Jahren dokumentiert hatte, wie die Droge den Menschen in Trona den Rest gab. Es fanden sich darüber hinaus Hinweise auf einen amerikanischen Dokumentarfilm zu dem Thema, doch war der gerade nirgends erhältlich. Nicht verwunderlich. Sowas war wohl kaum ein Kassenschlager.
Ausserdem fand ich noch diesen Filmsplitter von David Fen
http://www.tronainterruptedmovie.com
Nicht nur David Fenster und Tobias Zielony, sondern sogar Wim Wenders hatte den Weg hierher gefunden und eine kurze und etwas bizarre Sequenz „Twelve Miles to Trona“ für den Sequenzenfilm „Ten minutes older“ gedreht, die von ferne an seinen Film „Paris, Texas“ erinnerte. Ein Typ, der irgendwelche halluzinogene Cookies gegessen hat, gelangt nach einem delirischen Roadtrip mit Hilfe einer zufällig an einer Strassenkreuzung mit ihrem Jeep auftauchenden jungen Autofahrerin gerade noch rechtzeitig von Trona in das Krankenhaus im nächsten grösseren Ort, Ridgecrest. Die Notfallstation in Trona hatte nur drei Tage die Woche geöffnet. Als der Man vorbeikam, war sie geschlossen gewesen. Bizarrer Film, aber irgendwie passend.
Von Trona fahren wir weiter nach Mojave. Mojave, wo sich über Meilen hinweg die Windräder im Wüstenwind drehen und Sonnenkollektoren-Plantagen Strom erzeugen. Ein Ort, der komplett abhängig zu sein scheint vom zeitgenössischen Gegenstück des einstigen Bergbaus, den Solar- und Windenergiefarmen. Hier laufen die Geschäfte. Noch. Das scheinen auch die schier unendlichen Zugformationen der Union Pacific entlang dem Highway zu beweisen. Beide Verkehrsadern führen mitten durch den gesichtslosen Ort. Vermutlich hilft es dem spärlichen lokalen Gewerbe, dass hier nicht nur, wie zu Zeiten von Jack Kerouacs Freund Neil Cassady, Bremser für die Eisenbahn leben, sondern die Touristen auf dem Weg ins Death Valley vorbei kommen, tanken, einen Kaffee trinken, einen Hamburger essen, Plastik-Gallonen voller Wasser, Sonnencreme und Trekking-Schlapphüte mit Schutzfaktor 50 für den Abstecher in die Wüste kaufen, Essensvorräte für den zivilisierten Trip, Postkarten, Landkarten, getrocknetes Fleisch. Den besten Beef Jerky überhaupt, wie Werbetafeln am Strassenrand erklären.
Trona verfolgt mich. Es wird zum Schlüsselmotiv einer Herbstreise, während der sich mir immer mehr Bilder vom Tod ins sonnig-sorglose, technofuturistische Image schleichen, an das man in Kalifornien und in der Welt so gerne glauben will und für das auch ich anfällig bin. California, Golden State, steht auf jedem Autokennzeichen. Vielleicht war es ein Zufall, dass ich nicht nur das Death Valley sah, das legendäre, das wie alle legendären Orte auch ein wenig enttäuschend ist, wenn sie den Vergleich mit der jahrzehntelang genährten Fantasie aushalten müssen, sondern auch den kunstreligiösen Friedhof von Forest Lawn Memorial Park in Glendale, Los Angeles, in dem eine zur Heuchelei verkommene puritanische Gleichmacherei ebenso wie die parareligiöse Ästhetisierung und Ökonomisierung des Todes eine verstörende Verbindung eingehen. Er erinnert mich daran, dass ich endlich einmal wieder bei Tocqueville nachlesen will, was er über die dominante Rolle der Religion in Amerika schrieb. Amerika war ihm zufolge, wenn ich mich recht erinnerte, nicht zuletzt ein Sammelbecken aller religiösen Fanatiker und Spinner, die es im Europa der Aufklärung nicht mehr ausgehalten haben. Die meinten, besser zu wissen, wie es geht. Eine Form der Auslese, von der man nie so ganz wusste, ob sie positiv oder negativ war.
Dann war da noch der an eine Kunstinstallation im Stil der Land Art erinnernde symbolische Friedhof der Aktivisten und Pazifisten am pathetischen Hippie-Strand von Santa Monica. Überraschend an diesem Ort, der das kalifornische Lebensgefühl feierte wie wenige. Angeschrieben mit „Arlington West“, in Anspielung an den wichtigsten amerikanischen Militärfriedhof in der Hauptstadt Washington DC. Jedes weisse Kreuz im Sandstrand steht für je hundert im Irak und in Afghanistan gefallene Amerikaner. Grausamer Shortcut. Die roten stehen für die jüngsten Zugänge und je einen Toten. Vor einem dieser roten Kreuze sehe ich ein Plüschtier liegen, das aus dem Disneyland in Anaheim stammen könnte. Eine sehr junge Frau, eigentlich noch ein Teenager, kniet davor und arrangiert Blumen und andere Dinge. Eine Schwester, eine Freundin, eine Witwe? Ich sehe ein Foto im Sand stecken. Es zeigt einen blonden, fröhlichen jungen Mann. Der Inschrift auf dem Kreuz zufolge war er 1988 geboren worden und vergangene Woche gefallen. Aufgewachsen mit Surfbrett und Bermudashorts im ewig sonnigen, zwanghaft optimistischen Kalifornien. Oben auf dem Santa Monica Pier, Ende der Route 66 und aller Hippieträume von einst, stehen sie und machen mit ihren Smartphone Fotos für Facebook. Auch ich mache Fotos, weil das immer hilft, sich in aufwühlenden Momenten zu fassen.
Später verschmilzt dieser Totentanz am Pazifikstrand mit den theatralisch erleuchteten Halloween-Skeletten und Riesenspinnweben in den Bäumen der Vorgärten von Brentwoods Multimillionären, die vorübergehend zu unseren Nachbarn gehören. Jemand hat uns einen Spaziergang zu einem besonders spektakulären Grusel-Mummenschanz gleich zwei Querstrassen weiter empfohlen. Tatsächlich, er ist mit seinen über eine Länge von sicher fünfzig Metern zwischen künstlichen Grabsteinen und in Bäume verteilten Monstern, Hexen, Gespenstern, Spinnen und Fledermäusen, Zombies, an altenglische Kirchhöfe erinnernden Grabsteinen und Kinderpuppenleichen einer Opernkulisse würdig. Die Inszenierung ist offenbar legendär und gilt als Publikumsattraktion, was die langsam vorbeifahrenden Autos und Kleinbusse mit johlenden Kindern drin beweisen. Während wir in der Dunkelheit stehen, amüsiert Details kommentieren und fotografieren, spricht uns ein älterer Herr auf Deutsch an. Er erklärt uns, der Besitzer des Grundstücks sei einer der Bankiers der in der Finanzkrise von 2008 pleite gegangenen Bank Bear Stearns. Er ziehe das Spektakel hier alljährlich auf. Der Herr erklärt uns, dass er selber in Deutschland gearbeitet habe, aber jetzt schon seit über vierzig Jahren hier lebe. Er erzählt uns ungefragt, dass das Grundstück des Multimillionärs mit der Gruselkulisse 400 Millionen wert ist und dass gegenüber Dustin Hoffmann lebt. Fragen nach seiner eigenen Tätigkeit in diesem Ambiente weicht er aus: I’m retired. Einen Moment lang rätseln wir, ob er selber der Besitzer dieser morbiden Pracht ist, der ihre Bewunderer aushorcht.
Etwas muss dies alles auch zu tun haben mit der vom Publikum überrannten Ausstellung der privaten Schauder-Wunderkammer des beliebten Fantasy-Filmers Guillermo del Toro im Los Angeles County Museum. Auch sie trägt dazu bei, dass mir dieser Herbst in Kalifornien bald darauf vorkommt wie eine Zombie-Apokalypse. Der Herbst Amerikas. Zwei Wochen, nachdem ich Trona gesehen habe, wird der neue amerikanische Präsident gewählt. Er will, trompetet er, dafür sorgen, dass Firmen ihre Arbeitsplätze nicht mehr ins Ausland verschieben. Dafür will er Mauern bauen und alle ausgrenzen, die nicht aussehen wie er. Trona ist aber nicht zugrunde gegangen, weil die Firma, der es seine Blüte verdankte, ins Ausland zog. Vielmehr war die Blüte eine Scheinblüte. So kurz wie die Blüte der Kakteen in „Die Wüste lebt“, den wir in unserer Kindheit immer wieder vorgeführt bekamen, als könne uns dadurch etwas Wesentliches erklärt werden. Trona ist zerstört worden, weil die Firma, an deren Tropf es hing, an einen anderen Ort in Amerika zog. Einen Ort, der dem Management besser passte. Vielleicht wegen der von Industriebossen viel beschworenen „Synergien“, vielleicht, weil der Absatz stagnierte, die Ressourcen erschöpft waren oder aus sonst irgendwelchen Gründen, die solche Firmen eben haben, um ihre Strategie zu ändern. Ohne Rücksicht auf Verluste. Die Verluste der anderen, versteht sich.
Trona blieb zurück, wurde zu dem, was es heute ist: Ein undeklariertes Mahnmal für Skrupellosigkeit und Ausbeutung. Die Fahrt durch Trona hatte mir genügt, um zu verstehen, warum der Ausgang der Wahl die schlimmstmögliche Wendung nehmen musste, wie Friedrich Dürrenmatt das nannte. Ein Blick auf die Karte mit den detaillierten Wahlergebnissen zeigt ein für mich wenig überraschendes Ergebnis: Der Bezirk, zu dem Trona gehört, hat, als einer der wenigen im sonst eher demokratischen Kalifornien, den Trompeter gewählt, der das Blaue vom Himmel verspricht. Als ob Trona und andere Orte dieser Art dadurch noch gerettet werden könnten. Nur schon die Beseitigung der kaputten und verlassenen Häuser, um dem verbliebenen Rest des Ortes einen freundlicheren Anstrich zu geben, wäre zu teuer: Die billigen Baumaterialien stecken voller Asbest. Eine Perspektive würde sich dadurch sowieso nicht ergeben. Trona ist typisch für die Zerstörung, die bleibt, wenn der Trek der Geschäftemacher weiterzieht. Trona ist ein sehr amerikanischer Ort.
(c) Barbara Basting 2016