Radiohören in den Tagen vor Trump. Ein Reisebericht.
Kalifornien, Herbst 2016. Es sind nur noch wenige Wochen bis zu der amerikanischen Präsidentschaftswahl, die vorsorglich schon als „historisch“ bezeichnet wird, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Jedenfalls von der New York Times, von der ich mir die amerikanische Innenpolitik erklären lasse. Bald wird die Zeitung sogar mit einem Gratis-Zugang zu ihrer Online-Ausgabe für die Tage rund um die Wahl im November werben. Freie Information für alle, bevor sich, vielleicht, das Blatt wendet und womöglich die freie Information etwas Historisches wird im sogenannten „Land of the Free“.
Ich stecke im Stau auf der wegen des schlechten Strassenzustands recht arthritischen Lebensader Kaliforniens, dem Freeway Nummer 5, Richtung Norden. Gerade habe ich eine Galerien-Besichtigungstour in Culver City absolviert, einem in der Kunstszene angesagten Bezirk von Los Angeles, und mich ein wenig darüber gewundert, wie leer die riesigen Trend-Galerien an einem gewöhnlichen Freitag waren. Mit einem der Galeristen war ich ins Gespräch gekommen. Er zeigte Werke eines Künstlers, der einen fiktiven Kandidaten für die Präsidentschaftswahl erfunden hatte. Der Galerist war ziemlich zuversichtlich, dass die Demokraten gewinnen würden. Schliesslich waren wir in Kalifornien.
Nun muss ich nur einige Meilen in Richtung des Stadtteils Brentwood fahren, wo ich vorübergehend wohne. Natürlich war es ein Fehler, ausgerechnet zur Rush-Hour den San Diego-Freeway „northbound“ benutzen zu wollen. Es bedeutet Stop and Go für mindestens die nächste halbe Stunde im sogenannten LaLaLand. Ich hatte von dem viel gelobten Film nur kurz den Trailer gesehen. Wenn ich mich richtig erinnere, wird darin der Dauerstau in Los Angeles zur Party. Aber das ist nur schon deswegen sehr hollywoodesk, weil höchstens noch ein paar unverbesserliche Romantiker im Cabrio rumfahren, während die Mehrheit in ihren klimatisierten SUVs verschanzt ist. Wegen der Hitze und anderer Gefahren. Ein Mann am Strand von Venice hatte mir gesagt, Autofahren sei total riskant inzwischen, weil man nie wisse, ob der Fahrer nebendran die Waffe zücke, weil er sich aus irgendeinem Grund über einen geärgert habe. Ich hielt den Typen für einen Verwirrten. Aber angesichts all der blechernen Warnschilder in den Vorgartenrasen unserer Nachbarn, die „Armed Response“ ankündigten, war sein Gerede vielleicht doch nicht so abwegig.
Der Stau wird sich nur spät in der Nacht für kurze Zeit auflösen, wenn die Pendler in ihren Suburbs buchstäblich ver-staut sind. Bald darauf wird die Gegenbewegung Richtung San Diego einsetzen. Sehr schön anzusehen aus der Entfernung, etwa von Gettys Kunsthochburg aus, besonders im gleissenden Mittagslicht oder am Abend, wenn sich die langen Lichterketten der Scheinwerfer bis zum Horizont erstrecken, wo man die sehr gut abgedichtete Grenze nach Mexiko vermuten darf. Weniger hübsch, wenn man mittendrin steckt. Zumal es keine brauchbare Ausweichroute gibt. Der parallel zum Freeway verlaufende Sepúlveda Boulevard ist um diese Zeit ebenfalls proppenvoll. Ausserdem gibt’s da an jeder Kreuzung, alle paar hundert Meter, eine Ampel. Ich hätte eine Stunde früher aufbrechen sollen. Mindestens.
Neben, vor und hinter mir Pritschenwagen (steuerbegünstigt) von Handwerkern, Poolpflegern und Gärtnern, den Heerscharen von Latinos, die um diese Zeit die gediegenen und gut bewässerten Wohnquartiere ihrer Auftraggeberschaft verlassen, in denen die Palmen akkurat geschnitten sind, um in ihre um diese Jahreszeit wüstengrauen Aussenquartiere zurückzukehren, in denen die Palmen, sofern es sie überhaupt gibt, lange Bärte aus vertrockneten Wedeln tragen. Ich zucke zusammen, wenn sich einer der beängstigend grossen Peterbilt-Trucks mit ihrem blitzblank gewienerten Chrom an mir vorbeischiebt. Gewöhnungsbedürftig sind auch die überaus wendigen Spurwechselmanöver einiger Slalom-Fahrer, die sich rechts und links an einem vorbeischlängeln. Ist erlaubt und darf als klarer Beleg für das Freiheitsstreben der Amerikaner gelten. Da ich neben meinen Nerven nicht noch meine Versicherung testen will, entscheide ich mich dafür, wie die meisten anderen hier den Zeitverlust zu akzeptieren, stoisch im Strom mitzuschwimmen und irgendwelchen mit dem Fahren halbwegs vereinbaren Nebenbeschäftigungen nachzugehen. Eine Wissenschaftlerin am Getty hatte mir erzählt, sie lese im täglichen Stau Romane. So weit gehe ich nicht.
Mir kommt in den Sinn, dass ich mangels anderer Unterhaltung die verfügbaren Radiosender absuchen könnte. Bisher hat mich das futuristische Mediencockpit in meinem gemieteten Billig-SUV eher davon abgehalten. Zu dieser Zeit erwarte ich, aufgewachsen im Westeuropa der öffentlichen Rundfunkanstalten, zuverlässige Vorabend-Informationssendungen mit mehr oder weniger wichtigen Tages-Nachrichten und vielleicht ein wenig Hintergrund, zwischendurch milde Jazzklänge, die ebenso wie die freundlichen und aufmunternden Stimmen der Moderation dazu dienen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit am Arbeitsplatz aufgebauten Aggressionen abgleiten zu lassen. Ich suche NPR, National Public Radio, eine der besseren öffentlichen amerikanischen Radiostationen, finde es aber nicht. Der Suchlauf stoppt alle paar Sekunden. Doch fast immer nur aufgedrehtes Werbegequassel im Rekordtempo, mal auf Englisch, mal auf Spanisch. Endlich kommt ein Sender, der seriös klingt. Da wird offenbar die aktuelle Politik diskutiert. Könnte ja noch spannend sein, denke ich, angesichts dieser sogenannten historischen Wahl, selbst wenn diese nebst dem Galeristen auch die meisten meiner hiesigen Bekannten nicht mehr besonders nervös macht, weil sich der Kandidat Trump in ihren Augen ja schliesslich schon vollständig disqualifiziert hat. Ich versuche herauszufinden, worum es in dem Gespräch zwischen zwei Männern gerade geht. Ihr Tonfall hat etwas Rechthaberisches. Der Inhalt ihres Austauschs ist schon nach kurzer Zeit klar. Vor allem ist er ernüchternd. Ich habe, darauf lassen die ständig wiederholten Seitenhiebe auf Geburtenkontrolle und Abtreibung schliessen, einen von Evangelikalen betriebenen Sender erwischt.
Nun gut, denke ich, kann nicht schaden, etwas von dieser in Europa nur zu gerne verdrängten oder sogar völlig unbekannten Facette Amerikas im O-Ton mitzubekommen. Wird ja wohl kaum schlimmer sein als Radio Maria. Radio Maria hatte ich im Sommer zuvor in Italien kennengelernt. Ein Freund pries den Sender wegen der darauf vorgebeteten Litaneien augenzwinkernd als ideales Sprachlehrmittel (für Konjugationen, Deklinationen und stehende Redewendungen) auf einsamen Autofahrten durch den Apennin und hatte uns, sehr zur allseitigen Erheiterung, Kostproben vorgespielt. In Kombination mit einer eingeschalteten Küchenlampe hielt er Radio Maria für die ideale Einbruchssicherung seines toskanischen Landhauses. Fromme Leute, immer zu Hause: Dies musste Einbrecher unfehlbar in die Flucht schlagen. Später fand ich heraus, dass der katholische Litaneien-Sender längst weit über Italien hinaus verbreitet war und vermutlich weitaus einflussreicher als der Papst.
Zurück auf den Freeway 5. Der amerikanische Evangelikalensender bleibt eine Weile lang recht unauffällig, auch wenn sich die beiden Männer allmählich in eine merkwürdige Emphase hineinsteigern. Ich verstehe nur, dass es um einen drohenden endzeitlichen Kampf geht. Die Apokalypse steht bevor! Während rechts wieder einer dieser Trucks an mir vorbeizieht und ich mich mit dem Gedanken beruhige, dass so ein grosses Möbel vermutlich besser die Spur hält als all die Offroader und hochgetunten Porsches, folgt ein eindringlicher Aufruf zum Beten und vor allem zum Spenden. Donate, donate. Der amerikanischste aller amerikanischen Refrains, der Basso continuo einer Nation. Her mit dem Geld für die Sendung der Sendungsbewussten.
Ich suche die nächste Frequenz, bleibe kurz hängen bei Musik. Leider Country. Ganz ok zum Fahren, aber nur, wenn man auf einsamen Überlandstrecken Easy Rider nachstellen will. Hier im Stau nervt der Sound des Outbacks mit seinen Klampfen und Maultrommeln. Als nächstes lausche ich einem Moderator, der zunächst ganz vernünftig anmutet, nicht so wie diese komischen Evangelikalen, die klangen, als ob sie in einem selbstgebastelten Küchen- oder Kellerstudio sassen. Doch schon nach kurzer Zeit spielt der vermeintlich seriöse Sender einen fetten Werbeblock ein. Da werden etwa bizarre Agenturen vorgestellt. Diesen soll man sich anvertrauen, um wahlweise gegen die Kredikartenfirma zu prozessieren, die einem angeblich zu Unrecht die Karte gesperrt hat, um sich als unglücklich verheiratete Frau in die Obhut eines Scheidungsanwalts zu begeben oder um als finanziell gebeutelter Familienvater die gefährdete Hypothek umzuschulden. Dazwischen führt der Mann Dialoge mit aufgebrachten Anrufern. Sie klingen irgendwie künstlich. Vielleicht sind es ausgesonderte Hollywoodschauspieler, die sich hier als Empörungsstatisten ein Zubrot verdienen? Der Moderator schaltet auch dubios wirkende Experten zu, die sich darüber auslassen, warum Hillary Clinton im Präsidentschaftswahlkampf trickse und dass ihre Verwendung privater Emailaccounts für offizielle Belange zeige, wie abgrundtief verdorben sie sei. Es ist das alles noch vor der womöglich entscheidenden Aktion des FBI-Chefs Comey einige Tage vor der Wahl, in der er erneute Ungereimtheiten in Hillary Clintons Amtsführung andeutete. Und damit wohl endgültig dazu beitrug, dass diese Wahl tatsächlich historisch wurde.
Nachdem ich mir dies alles während dreissig Minuten des Vorwärtsruckelns um vielleicht fünf Meilen angehört und mich dabei gefragt habe, ob ich wohl weit und breit die einzige bin, die sich diesen Quatsch antut, fällt mir der Jazzsender auf 88.1 AM ein. Von dessen Existenz habe ich durch den schwarzen Chauffeur unseres elitären Scholar Housing erfahren, der ihn morgens, wenn er uns mit dem Kleinbus zur weissen Kunsthochburg fährt, dezent im Hintergrund laufen lässt. Der Sender kam mir da jeweils vor wie ein schon geradezu klassisches Kulturradio, und ich hatte den Chauffeur um Auskunft gebeten, was er da genau höre. Doch jetzt, zur besten Sendezeit, bringt auch 88.1 AM in leider ziemlich kurzen Abständen sehr eindringliche Spendenaufrufe. Auch kommt mir die Musikauswahl nun eher unfrisch vor. Noch dazu nervt die Moderation. Es ist nicht ganz klar, ob die Stimme, die nach pensioniert und freiwillig klingt, einem Mann oder einer Frau gehört. Next please. Wenn ich das richtig verstehe, lausche ich nun einem raschen, slangbefrachteten Dialog zwischen zwei Trump-Gegnern. Könnte ein Studentenfunk der nahen Universität UCLA sein.
Die beiden witzeln ausgiebig über den berühmten Moderator und Quotenkönig Bill O’Reilly, in dessen Sendung der Kandidat Trump schon vor etlichen Jahren seine sexistischen Sprüche losgelassen hatte. Beweis für seine moralische Verkommenheit. Geplänkel über die Frage, wann O’Reilly aufgrund seines Sexismus definitiv von seinem Sender Fox geschasst werde. In dem Fall werde er sicher, berühmt wie er sei, mühelos überall in Hollywood einen Job finden, meinen die beiden Lästermäuler (geschasst wird er übrigens tatsächlich, wenn auch erst sechs Monate später). Ist zwar im Moment alles halbwegs amüsant, in der Essenz jedoch deprimierend und ermüdend.
Auf dem grünen Hinweisschild zuoberst steht jetzt der Exit 57 South, Sunset Boulevard. Noch eine Viertelmeile. Ging schneller als gedacht. Ich muss über mehrere Spuren zügig auf die Abbiegespur wechseln, ohne dass mir dabei ein müder, vielleicht von einem Chat abgelenkter Pendler oder gar einer dieser Peterbilts ins Heck rutscht. Das Geschnatter der Moderatoren stört plötzlich. Also für den kurzen Rest der Fahrt zurück zum bemoosten Jazzsender.
Ein paar Wochen später, ich bin inzwischen nicht mehr in Kalifornien, wählt Amerika. Eine Kurznachricht aus Kalifornien weckt mich frühmorgens auf. Das Ergebnis steht schon fest. Katzenjammer. Die amerikanischen Freunde melden, dass sie mit der Klampfe am Kamin des Scholar Housing sitzen, es ist nun sogar in Kalifornien kühler geworden, und Bob Dylan singen. Meine kurze Freeway-Fahrt mit den Evangelikalen und dem Blödelsender kommt mir wieder in den Sinn. Blasen, die sich normalerweise nicht berühren, sind für kurze Zeit durch mein Mietauto gewabert. Fragmente einer Medienlandschaft, in der die Zuhörer nur noch als Konsumenten betrachtet werden, die ausschliesslich das geliefert bekommen, was sie ganz gewiss hören wollen. Und wofür sie spenden.
(c) Barbara Basting, Ende November 2016/Januar 2018